Sustainable Finance Vision #4
Bei unserem Wirtschaftssystem werden vor allem lang bewährte Narrativen eingesetzt. Die Nachhaltigkeit kommt in diesen Narrativen aber oft noch zu kurz. Daher haben wir uns die Frage gestellt, ob und wie sich der Fokus auf Nachhaltigkeit in bereits bestehende Narrativen einbetten lässt.
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Elisabeth Büchi Dossenbach, die Autorin der Vision
Wo stehen wir an und wieso?
Um die Klimaziele und den Übergang zu einer nachhaltigen1 Schweiz bis 2050 zu erreichen, braucht es eine weitreichende und schnelle Transformation der Wirtschaftsstruktur und des Finanzsektors durch wirtschaftspolitische Lenkung. Der Bund überlässt den Finanzinstituten die Möglichkeit der Selbstregulierung, muss dann aber die Transparenz über die Netto-Null Selbstverpflichtungen und die Teilnahme an Netto-Null-Allianzen von denselben Finanzinstituten einfordern.2 Die Zeit drängt, das erste Zwischenziel rückt näher und wie steht es mit der Zielerreichung? Sowohl mit dem Treibhausgasausstoss bis 2030 als auch den Finanzflüssen3 bleibt die Schweiz hinter ihren Zielen zurück.
Liest man sich durch die Ansammlung von Dokumenten zu Politik, Strategie und Massnahmen zur Nachhaltigkeit, drängt sich eine Vermutung auf: Nachhaltigkeit wird angestrebt, aber man hält auch weitgehend an den bewährten Narrativen fest. Daraus ergeben sich Zielkonflikte, die in den Diskussionen über die Massnahmen für den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft hervortreten. Die politische Theorie spricht von „Rechtfertigungsordnungen und Rechtfertigungsnarrativen“.4
Die Marktwirtschaft und der damit einhergehende Kapitalismus haben in den industrialisierten Ländern Wirtschaftswachstum, technischen Fortschritt und für breite Schichten eine Erhöhung des Lebensstandards gebracht. Trotz mehrerer Krisen ist die Zuversicht in dieses Wirtschaftssystem und seine Narrative ungebrochen. Falls Marktversagen vorkommt, wie bei der Verschmutzung durch Treibhausgase, wird es mit marktkonformen Mitteln korrigiert. Regulierung ist zwar manchmal unvermeidbar, soll aber effektiv, innovationsfreundlich und international abgestimmt sein.5 Dass manche dieser Narrative notwendig sind, wird kaum angezweifelt, aber sind sie hinreichend?
Herman Daly6, ehemals Ökonom bei der Weltbank, befasste sich früh mit den Folgen des Wirtschaftswachstums. Im Gegensatz zu der klassischen Ökonomie sah er das Wirtschaftssystem als Teil der Umwelt, also des Ökosystems. Da die Wirtschaft Materie und Energie aus dem Ökosystem entnehme und damit Güter und Leistungen (Nutzen) produziere sowie Verschmutzung und soziale Kosten verursache, müsse gefragt werden, wie lange die Entnahme aus den Ökosystemen weitergehen könne, bis der bewertete Verlust an Ökosystem-Leistungen höher werde, als der Wert der wirtschaftlichen Leistung? Daly bezeichnete diesen Wertverlust durch zusätzliche Produktion als ”uneconomic growth”. Das führte zu der entscheidenden Frage, welches Ausmass die Wirtschaft im Verhältnis zum Ecosystem einnehmen könne, bevor die Wirksamkeit des letzteren gestört wird. Zwar regelt der Markt die effiziente Zuteilung der zu einem bestimmten Zeitpunkt angebotenen Mengen über die Preise. Diese Marktpreise können aber nicht anzeigen, ob sich ein Ökosystem den Grenzen seiner Belastbarkeit nähert.7 Daly schätzte, dass in Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen bereits “uneconomic growth“ stattfindet: Die Abnahme des Nutzens aus dem Ökosystem ist also bereits grösser als die Zunahme des Nutzens aus der wirtschaftlichen Leistung. Besonders ernüchternd sei, dass Wirtschaftswachstum nicht für alle Menschen die erhoffte Reduktion der Armut herbeiführte (Trickle Down-Narrativ8). Der Kapitalismus verschärfe die Ungleichheit.
Empirische Untersuchungen zu diesem Trickle Down-Narrativ haben gezeigt, dass Wirtschaftswachstum nicht ohne weiteres allen Bevölkerungsgruppen zugutekommt und sich damit Ungleichheit verfestigt.9 Eine weitere Erklärung zeigte sich einmal mehr aus der Aufarbeitung der Finanzkrise 2008.10 Entwicklungen, die vor der Finanzkrise entstanden und zur Krise beigetragen hatten, wurden nicht rückgängig gemacht. Grosse Investor:innen und vermögende Private haben wesentliche Vorteile in der Kapitalakkumulation.11 So sind für Inhaber:innen grosser Vermögen die Verlustrisiken durch Wirkmechanismen im Finanzsektor und “implizite Staatsgarantien” massiv verringert worden.12,13
Abgesehen von den sozialen Auswirkungen der zunehmend ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung und damit auch verminderter Chancengleichheit in der Gesellschaft, führt dieser Zustand zu einer Gefahr für den sozialen Frieden.14
Durch die zunehmende Wahrnehmung des Verlustes von Biodiversität, die unsere Lebensgrundlage bildet, steigt deren ökonomischer Wert. Die Bemühungen, die grossen Ökosysteme, einzelne Ressourcen wie Wasser und weitere Güter und Leistungen der Natur zu bewerten und marktfähig zu machen, sind im vollen Gang. Impulse zu umweltpolitischen Lösungen kommen aus verschiedenen Richtungen der wirtschaftlichen Theorie. Diese unterscheiden sich stark bezüglich der Annahmen zu menschlichen Werthaltungen und Verhalten. Dementsprechend divers sind die bevorzugten Lösungsansätze.16
Kritisiert wird die Verwendung von Finanzmarkt Prinzipien bezüglich Zeithorizont, Risikokonzeption und Zuteilung der Ressourcen: Investitionen müssen morgen schon Gewinne machen, während die Risiken auf Dritte verteilt werden. Ausserdem werden Ressourcen nach höchster Renditeerwartung zugeteilt. Diese Grundsätze stehen im Gegensatz zu den unter Nachhaltigkeit geltenden Prinzipien:17
Auf lange Frist ausgerichtete Entwicklung, Risikominimierung und -vorsorge und Ressourcenallokation unter Berücksichtigung zukünftiger Generationen, d.h. ökologischer Erneuerbarkeit und unter Einbezug sozialer Auswirkungen. Erst durch den Vorgang der Bewertung werden nachhaltige Investitionen zu Produkten und damit handelbar. Wenn aber die angewandten Methoden zur dieser Bewertung von Umweltgütern von Finanzfachleuten geschaffen werden, bestehe die Gefahr, dass die Prinzipien der Nachhaltigkeit “korrodieren” und den Präferenzen der Investor:innen angepasst würden.18 Dabei erlangen diejenigen, die die Bewertung durchführen, “Deutungsmacht über die Objekte”.19 „Schliesslich besteht die Gefahr, dass sich die ökonomische Ungleichheit des Finanzmarktkapitalismus auf eine Ungleichheit in Bezug auf Nachhaltigkeit überträgt (…)”.2o
1. Unter Nachhaltigkeit versteht der BR die 17 von der UNO festgeschriebenen Sustainable Development Goals.↑
2. Bericht BR: Sustainable-Finance Schweiz, S. 11↑
3. Siehe dazu BAFU, Thema Klima: Klima Verträglichkeitstest für Banken, Vermögensverwaltungen, Pensionskassen und Versicherungen haben gezeigt, dass der Finanzplatz Schweiz nach wie vor stark in die Erdöl- und Kohleförderung investiert. ↑
4. Besonders in modernen, pluralistischen Gesellschaften basieren normative Ordnungen auf komplexen Rechtfertigungsnarrativen, die bestehende Machtstrukturen stützen und Individuen oder Gruppen in die Lage versetzen, innerhalb solcher Strukturen Macht auszuüben,“ (…) Normative Ordnungen, Rainer Forst und Klaus Günther, Berlin, 2. Auflage 2021, S.82ff↑
5. Strategie nachhaltige Entwicklung 2030, S. 16↑
6. Siehe dazu: Herman Daly, founder of ecological economics and professor emeritus at the University of Maryland, will speak on “Economics for a Full World”, Gonzaga University, Spokane, Washington, 13. June 2022. https://www.youtube.com/watch?v=pA84fIfV100↑
7. Ökonomisierung der Umwelt und ihres Schutzes, Texte 71/2018, Umweltforschungsplan, Forschungskennzahl 3715111020, von Franziska. Wolff, Martin Gsell, Öko-Institut , Berlin, S. 63↑
8. Trickle down bedeutet, dass bei einem Wachstum der Wirtschaft automatisch alle Gruppen der Gesellschaft profitieren, weil höhere Einkommen oberer Schichten zu unteren durchsickern.↑
9. Siehe dazu: Rainer Klump, Pascal Wolf: Das Trickle Down-Narrativ als Rechtfertigung wirtschaftlichen Wachstums, in: Normative Ordnungen, Rainer Forst und Klaus Günther, Berlin, 2. Auflage 2021, S. 502-519↑
10. Siehe dazu: Christian Hecker: Finanzmärkte und (soziale) Nachhaltigkeit – ein schwieriges Verhältnis, In: Wirtschaftsdienst /96. Jahrgang, 2016 · Heft 3 · S. 173–178↑
11. Dito↑
12. Dazu: Katharina Pistor: The Code of Capital – How the law creates wealth and inequality, Princeton University Press, 2019↑
13. Christian Hecker, Finanzmärkte und (soziale) Nachhaltigkeit↑
14. Christian Hecker↑
15. Siehe dazu: Finanzialisierung von Nachhaltigkeit, Natalia Besedovski in: Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit, transcript Verlag Bielefeld, 2018, S. 25-40↑
16. Eine gute Übersicht findet sich in: Ökonomisierung der Umwelt und ihres Schutzes, siehe Fussnote 7↑
17. Siehe dazu: Finanzialisierung von Nachhaltigkeit↑
18. Finanzialisierung von Nachhaltigkeit, S. 27 u. 34↑
19. Dito S. 32↑
20. Dito S. 36↑
Ein Wirtschaftsystem basierend auf neuen Rechtfertigungsnarrativen, die das langfristige Funktionieren des Systems Umwelt prioritär setzen, und dessen Leistungen darin bestehen, Güter und Dienste für ein genügsames, gesundes Leben für alle Menschen langfristig, nachhaltig und innerhalb der planetaren Grenzen bereitzustellen.
Die Verantwortlichen in der Regierung, der Wirtschaft und der Politik zusammen mit der Zivilbevölkerung kooperieren in der Bewältigung des Klimawandels und der Biodiversitätskrise. Dazu braucht es Übereinstimmung für aufrichtige, gegenseitige Transparenz. Die Konsequenzen aus der Transformation zur Nachhaltigkeit und auftretende Zielkonflikte (und die Kosten bei Unterlassung) für die Bevölkerung werden offen diskutiert.
Damit einhergehend werden Rechtfertigungsnarrative gemeinsam neu überdacht und verhandelt. Wir einigen uns auf ein Wirtschaftssystem, das anstatt auf Wettbewerb mehr auf Kooperation und fairem Handel beruht. Unsere neuen Narrative widerspiegeln die Prinzipien der Nachhaltigkeit: auf lange Frist ausgerichtete Entwicklung, Risikominimierung und -vorsorge und Ressourcenallokation unter Berücksichtigung zukünftiger Generationen, d.h. ökologischer Erneuerbarkeit und unter Einbezug sozialer Auswirkungen.
Die Bewahrung der Funktionen der vielfältigen Ökosysteme, ihre Regenerationsfähigkeit und die Wiederherstellung bereits ausgenutzter Systeme wird Priorität.
Das Ausmass der Beanspruchung der Ökosysteme durch menschliche Eingriffe wird beschränkt und an ihren Belastungsgrenzen ausgerichtet.21
Die Verschlechterung der Lebensgrundlagen durch die Klima- und die Biodiversitätskrise betrifft die Menschen in weniger entwickelten, armen Ländern stärker.22 Diese Gebiete brauchen geeignete Finanzierung, damit sie nachhaltige Infrastruktur aufbauen und ihren Menschen Perspektiven geben können.
Auch in den reichen und demokratischen Ländern ist es wichtig, dass die Tragweite der notwendigen Veränderungen verstanden und ein breiter Konsens erreicht wird. Die Kosten der Transformation aus dem Klimawandel und der Schädigung der Ökosysteme dürfen nicht den unteren Einkommensschichten aufgebürdet werden. Vielmehr soll man aufzeigen, wie sie mit der nachhaltigen Wirtschaft gewinnen können.
21. Laut IPCC müssen für die Erhaltung der Stabilität (Resilienz) der Biodiversität weltweit 30 bis 50% der Land-, Frischwasser- und Meeresflächen geschützt werden. Zitiert nach: International. Siehe auch Strategie nachhaltige Entwicklung 2030 S. 6 System Change Compass, Open Society Foundations 2022, S. 90↑
22. International System Change Compass, S. 90↑
Um die Vision Wirklichkeit werden zu lassen, empfehle ich die folgenden drei Handlungsempfehlungen.
In der Schweiz gibt es bereits seit über 20 Jahren eine Biodiversitätsstrategie und ein Biodiversitätsmonitoring.24 In der Wohlfahrtsstatisik des Bundesamtes für Statistik ist der Faktor “Natürliches Kapital” aufgeführt. Es werden aber nur Daten zu den Indikatoren Luft-, Grundwasserqualität und Biodiversität ausgewertet und um subjektive Indikatoren ergänzt. Diese Daten sind untereinander nicht direkt vergleichbar, was ein genereller Nachteil von Wohlfahrtsindikatoren ist. Um diesen Umstand zu beheben, muss ein einheitlicher Massstab, also Standard, entwickelt werden. Aus den vorhandenen Daten und Erkenntnissen könnte eine nationale Buchhaltung der Biodiversitätsflächen und Ökosysteme der Schweiz mit einer Bilanz als Statusbericht und einer laufenden Kosten-Nutzen Rechnung entwickelt werden. Daraus können Kennzahlen und Zielgrössen geschaffen werden, über deren Erfolge von den verantwortlichen Stellen berichtet wird25 und die veröffentlicht werden.
In diesen Zielgrössen müssten auch weitere Indikatoren enthalten sein, die die Auswirkungen auf die Biodiversität und Ökosysteme im Ausland aufzeigen (durch Importe wie Konsumgüter, Vorprodukte und Rohstoffe!). Durch diese Kennzahlen soll die Problematik des weltweiten Biodiversitätsverlustes verstärkt in das Bewusstsein der Bevölkerung gebracht werden.
23. Strategie nachhaltige Entwicklung 2030, S. 9↑
24. Swiss academies fact sheets, Was die Schweiz für die Biodiversität tun kann. Handlungsoptionen für ausgewählte Sektoren, scnat akademie der naturwissenschaften, 2022↑
25. Es gibt bereits einen regelmässigen ausführlichen Bericht des Bundesrates: Umwelt Schweiz 2022, mit Indikatoren!↑
Wir danken Elisabeth ganz herzlich für ihren Beitrag. Die Ideen und Texte sind im Rahmen des Projekts „Vision Schweiz 2050“ des glp lab entstanden. Dabei wurden diese im Sustainable Finance-Team und z.T. mit externen Expert:innen diskutiert und kommentiert. Nichtsdestotrotz legen wir bei diesem Projekt wert darauf, dass individuelle und zum Teil unkonventionelle Sichtweisen und Ideen Raum finden.
Elisabeth Büchi Dossenbach
Studierte an der Universität Zürich Betrieb- und Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte.
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