Bau & Infrastruktur Vision #1
Es ist kein Geheimnis: Wir nehmen gerne und immer mehr Raum in Anspruch. Die Auswirkungen für Land und Leute sind erkennbar und führen mitunter zu heftigen politischen Diskussionen. Was also können wir tun, damit die Schweiz ein Raum für nachhaltige Freude und Lebensqualität bleibt?
➝ Die aktuellen Herausforderungen
➝ Die Vision
➝ Die Handlungsempfehlungen
➝ Der Nutzen
➝ Das Glossar
➝ Die Autoren
Daniela Ebner und Uwe Scheibler, die Autor:innen der Vision.
Die Schweiz hat eine auf 4’100’000 ha begrenzte Fläche. Davon sind 8 % mit Siedlungen und Verkehrsnutzung belegt (im Mittelland 18 %), 32 % sind Wald, rund 35 % werden landwirtschaftlich genutzt und die freie Landschaft hat noch einen Anteil von 25 %. Die Bautätigkeit beispielsweise trifft vor allem die Landwirtschaftsflächen. Jede Sekunde werden 0,3 m2 davon in Wald (hauptsächlich im Berggebiet) und 0,8 m2 in Siedlungs- und Verkehrsfläche umgewandelt. Dies ergibt einen jährlichen Verlust von rund 2’600 ha an Landwirtschaftsfläche und somit eine Verringerung der Ernährungskapazität um etwa 10’000 Personen 1. Gleichzeitig nimmt die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz jährlich zu (+0.8% in den letzten fünf Jahren 2), was die Schweiz vor Herausforderungen stellt.
Fakt ist also: Die Schweiz ist zersiedelt und verbaut, die Landschaft ist zerschnitten, die Biodiversität sinkt mit jedem Tag und von einer Ernährungssouveränität im Sinne einer bedarfsäquivalenten Produktion sind wir weit entfernt. Die industrielle Landnutzung führt auch zu grossen Verlusten an den natürlichen Lebensgrundlagen. Als zusätzlicher Belastungsfaktor tritt die Klimaerwärmung auf, die z.B. den Wasserhaushalt durch das Abschmelzen der Gletscher im Sommer stark verändern wird. Trotz fast 50 Jahren gesetzlicher Raumplanung sind ihre Ziele (z.B. Trennung in Baugebiete und Nicht-Baugebiete, Bündelung von Verkehrs- und Ver- und Entsorgungsinfrastukturen) verfehlt worden.
Trotz einer deutlichen Zunahme der durchschnittlichen Wohnfläche 3, der Bereitstellung grosser Freizeiteinrichtungen und einer stetig erweiterten Mobilitätsinfrastruktur ist die durchschnittliche Zufriedenheit der Bevölkerung 4 heute nicht grösser als in den Jahrzehnten zuvor. Die soziale Individualisierung, der Wegfall öffentlicher Begegnungsräume und die zunehmende Delegation ehemals gemeinschaftlicher Aufgaben führen vermehrt zu isolierten Existenzweisen.
Mehrere Gründe sind für diese Entwicklungen verantwortlich:
Damit ist die Aufgabe klar: Wir müssen wieder ein Gleichgewicht von räumlichen Ansprüchen, der wirtschaftlichen und sozialen Nutzungsart und der Tragfähigkeit der Umwelt, bzw. der an Ökosystemdienstleistungen anstreben.
1 https://www.bfs.admin.ch/asset/de/19365051
2 https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/medien/mm.msg-id-97369.html
3 https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-platzverschwender-der-schweiz-ld.1323805
4 https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/24205316/master
Smart zusammenrücken, nachhaltig bauen. So sieht unsere Zukunft aus.
In der Schweiz leben die Menschen aufgrund einer neu ausgerichteten Bevölkerungspolitik und gemeinschaftlich orientierter und diverser Wohnformen auf einer kleineren Siedlungsfläche, dafür mit einer höheren Lebensqualität. Dennoch sind ihre Bedürfnisse aufgrund vieler Freiheiten, einer hohen Baukultur und neuen öffentlichen Räumen und Gemeinschaftseinrichtungen befriedigt. Das Wohnangebot wird durch konsequente Raumplanung und effizientere Ausnutzung wesentlich besser an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst. Dazu tragen auch modular strukturierte und multifunktional ausgerichtete Gebäude und Anlagen bei. Damit sind auch die Mietkosten tiefer und machen weniger als ⅓ des Medianeinkommens aus. 2050 gibt es mehr Wohnungseigentum (Private, Genossenschaften). Das Verhältnis der durch den Gebäudepark (Bau, Betrieb, Um-/Rückbau) verursachten Umweltansprüche zur vorhandenen Umweltkapazität steht in einem nachhaltigen Gleichgewicht.
Das Mobilitätsangebot ist von der heutigen, sehr teuren und umweltbelastenden Mehrfachabdeckung mit unterschiedlichsten Verkehrsformen auf eine sogenannte kombinierte Mobilität umgestiegen. Das heisst, dass eine intermodale Kombination der unterschiedlichen Formen nach den unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten und Ansprüchen hin umgestaltet werden. Konkret können die Menschen in urbanen Räumen sämtliche Angelegenheiten des täglichen Bedarfs zu Fuss, mit dem Velo oder mit dem Bus/Tram/der S-Bahn erledigen. Auch die Arbeitsplätze sind mit diesen Verkehrsmitteln erreichbar und die tägliche Reisezeit hat von heute 90 auf 15 Minuten abgenommen. Das ergibt jedes Jahr eine zusätzliche Freizeit von 16 Tagen.
Überflüssige oder am falschen Ort angesiedelte Siedlungs- und Verkehrsanlagen werden zurückgebaut und die verbleibenden Flächen intelligenter genutzt.
Die Bevölkerung wird laufend über den Zustand von Umwelt und Raumplanung informiert, bei konzeptionellen Arbeiten einbezogen und kann sich bei konkreten Projektierungen frühzeitig mit einbringen.
11 Massnahmen, welche unsere Schweiz nachhaltig lebenswerter machen.
Bund, Kanton und Gemeinden informieren regelmässig über Themen der Raumnutzung und deren Potentiale. Die Grundlagen werden in den Schulen vermittelt und auf verschiedenen Ebenen wird ein öffentlicher Diskurs gepflegt.
Die Prozesse und Entscheide der Raumnutzung sind auf allen Ebenen so angelegt, dass die Schwelle tief angelegt ist und die Mitwirkungsmöglichkeiten attraktiv sind. Engagierte Mitarbeit wird durch konkreten Einfluss honoriert. Die Mitwirkenden können sich durch ihr Engagement selber kompetenter weiterbilden.
Es braucht keine neuen Gesetze, aber die geltenden werden konsequent umgesetzt. Beispiel: Durchgrünungsgebot der Siedlungen im RPG. Verfassungsverletzende Gesetze sind dank der neuen Möglichkeit der Verfassungsklage wieder aufgehoben.
Anstelle der Fixierung auf ein materielles und monetäres Wachstum, das ab einem gewissen Mass die Biosphäre bedroht, wird die Perspektive auf qualitätssteigernde Massnahmen mit höherem Social Benefit gerichtet.
Dank der konsequenten Umsetzung geltenden Rechts und der technischen Entwicklung (z.B. deutlich verminderte Aussenwirkung von Industrie und Verkehr) können viele Einzelbestimmungen aufgehoben und die raumplanerischen Funktionszuordnungen gelockert werden. Das eröffnet neue Potentiale in der Raumnutzung.
Alle Bauten und Anlagen werden erstens nur befristet bewilligt und sind grundsätzlich mit einer Rückbaupflicht belastet. Die Qualitätslabels berücksichtigen den gesamten Lebenszyklus in Bezug auf Material, Energie und Wiederverwendbarkeit.
Bauten und Infrastrukturen sind mehrdimensional geplant und betrieben. Dadurch sinken die Kosten für die Allgemeinheit und die Benutzerfreundlichkeit hat sich erhöht. Beispiel: Jedes Gebäude verbraucht nicht nur, sondern produziert auch Energie und stellt ein Materialdepot für künftige Vorhaben dar. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten für bedürfnis-orientierte Nutzungen, z.B. der Kombination von Wohnen und Arbeiten.
Landschaftsräume mit eindeutiger Abwanderungstendenz oder Verlust der bisherigen Funktion werden über eine sozial verträgliche Transformation als Wildnisgebiete ausgewiesen und sämtliche Anlagen ausserhalb der Bauzonen werden bei sich bietenden Gelegenheiten zurückgebaut.
Um den Gemeinden einen steuernden Einfluss auf die Raumplanung zu ermöglichen, benötigen sie einen Mindestanteil an Grundeigentum. Um dies zu ermöglichen, wird ihnen ein gesetzliches Vorkaufsrecht eingeräumt. Die Gemeinden dürfen grundsätzlich keine Grundstücke mehr verkaufen und können nur befristete Nutzungsrechte abgeben.
Anstelle der früheren Verdichtung nur an Nutzungsflächen, findet eine echte Nutzungsverdichtung statt, welche die Nutzung gleichzeitig vergünstig.
Angeknüpft an die genossenschaftlichen Wurzeln der Schweiz werden Gemeinschaftsprojekte prioritär gefördert. Daraus entsteht eine hohe gesellschaftliche Wertschöpfung.
Das werden die positiven Auswirkungen auf die Ökologie, die Wirtschaft und unser soziales Zusammenleben sein.
Die wichtigsten Begriffsklärungen aus Sicht der Autor:innen.
in Zustand, in dem in Bezug auf das System Erde (oder einer Region davon) die gegebenen Umweltkapazitäten durch menschliche Ansprüche und Tätigkeiten erstens in ihrer Produktivität nicht eingeschränkt und zweitens die für den Menschen relevanten Ökosystemdienstleistungen nicht übernutzt werden. Grundsätzlich haben alle Lebewesen ein Existenzrecht und den kommenden Generationen muss ein gewisser Spielraum für eine eigenständige Entwicklung freigehalten bleiben.
Die sogenannten „Grenzen des Wachstums“ gibt es, sie sind aber je nach Stand der ökologischen und technischen Entwicklung elastisch und dynamisch. Spätestens seit den 1950-er Jahren überschreitet allerdings die Menschheit diese Grenzen in einem zunehmenden Masse. Dabei wird die Produktivität des Systems Erde reduziert, zahlreiche Arten an Pflanzen-, Pilz- und Tierarten ausgelöscht und ein Grossteil in der Existenz gefährdet.
Global gesehen überbeansprucht die Menschheit aktuell das System Erde mindestens um das Zweifache der Umweltkapazität. Auf die Schweiz bezogen wurde die Kapazitätsgrenze bereits 1920 überschritten und das Verhältnis zwischen Anspruch/Beeinträchtigung und vorhandener Kapazität liegt bei etwa 4:1. Damit gehört die Schweiz als eines der reichsten Länder der Erde auch zu denjenigen, welches die Umwelt am meisten beansprucht.
Weil die „Grenzen des Wachstums“ rein physikalisch durchaus auch absolut begrenzt sind, gibt es aber auf Grund der Tatsache, dass sich der Fussabdruck der Zivilisation aus dem Produkt mehrerer Faktoren berechnet, einen gewissen Spielraum. Die Grenzen sind also in einem gewissen Masse dynamisch oder elastisch.
Die Rechenformel dafür heisst:
CC > I [P x A x T]
CC = carrying capacity (Tragfähigkeit des Systems Erde), P = Population, A = Lebensstandard (BIP/Bevölkerung), T = Technology und I = Impact bedeuten.
Die Tragfähigkeit kann heute mit dem Global Footprint und mit den Planetary Boundaries mindestens annähernd berechnet werden. Weil alle 3 wesentlichen Faktoren P, A und T variabel sind, ist es das Produkt I ebenfalls und kann also über unterschiedliche Massnahmen gesteuert werden. Bei der aktuellen Überschreitung (I = 4 x CC!) in der Schweiz bedarf es aber sehr grosser Anstrengungen, um einen nachhaltigen Zustand zu erreichen. Wichtig ist auch der Hinweis zum Lebensstandard, der bei uns auf materielle Ansprüche fokussiert ist, aber nicht zwingend ein „Gutes Leben“ garantiert.
Eine Aufgabe mit möglichst geringem Aufwand an Material und Energie möglichst gut lösen. Beispielsweise zeigen die Effizienzklassen bei Elektrogeräten den unterschiedlichen Energiebedarf bei gleicher Leistung. Die technische Effizienz steigt beim Stromeinsatz um rund 2 % pro Jahr.
Kann mit Genügsamkeit übersetzt werden. Es geht darum, dass jeder Mensch nur das beansprucht, was er für ein „gutes Leben“ benötigt. Suffizienz garantiert also noch keine Nachhaltigkeit, stellt aber einen wichtigen Baustein für die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit dar.
Bauten, Anlagen und Infrastrukturen werden schon so designt, dass ihre Grundeinheiten ohne grösseren Aufwand untereinander kombinierbar sind. Gute Beispiele existieren schon im Wohnungsbau, wo Zimmer unterschiedlichen Wohnungen zugeordnet werden können und Gemeinschaftseinrichtungen wie Küchen mehreren Grundeinheiten dienen.
Bauten, Anlagen und Infrastrukturen werden schon so designt und genutzt, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten auch für unterschiedliche Zwecke genutzt werden können. Bereits heute gibt es z.B. Gewerbehallen, die über’s Wochenende für kulturelle Zwecke genutzt werden statt leer zu stehen.
Für unterschiedliche Räume und unterschiedliche Zwecke werden möglichst wenige verschiedene Verkehrssysteme eingerichtet und betrieben, die allerdings über intermodulare Knoten optimal miteinander verbunden und optimal aufeinander abgestimmt sind. Pro Raum und Zweck wird immer dasjenige System mit den geringsten Umweltansprüchen/-belastungen gewählt. Die Systeme sind miteinander und für die Benutzer:innen digital vernetzt und optimiert.
Wir danken Daniela und Uwe ganz herzlich für ihren Beitrag. Die Ideen und Texte sind im Rahmen des Projekts „Vision Schweiz 2050“ des glp lab entstanden. Dabei wurden diese im Bau & Infrastruktur-Team und z.T. mit externen Expert:innen diskutiert und kommentiert. Nichtsdestotrotz legen wir bei diesem Projekt wert darauf, dass individuelle und zum Teil unkonventionelle Sichtweisen und Ideen Raum finden.
Uwe Scheibler
Dr. Dipl.Ing. Landschaftsplanung TU
Daniela Ebner
Dipl.-Ing. Architektin
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